Die Vergebung

■ Was würden wir zur Antwort geben, wenn wir gefragt werden würden, welches inhaltliche Element denn typisch christlich ist? Was ist das ganz besondere und eben charakteristische Merkmal des christlichen Glaubens, welches ihn gerade auch im Vergleich mit allen anderen Religionen einmalig herausragen lässt? Worin besteht gewissermaßen sein innerer geistiger “Mechanismus”, welcher seinen unverkennbaren Erkennungswert erblicken lässt?
Nun, sicher wird man in diesem Zusammenhang einige an entsprechenden Grundbegriffen anführen können. Nun wird wohl jeder, der das Christentum hinreichend kennt, in diesem Zusammenhang unbedingt auch das folgende Stichwort nennen: Vergebung! Die Vergebung bildet gewissermaßen nicht nur das geistige Fundament, auf welchem das Christentum als solches wesentlich aufgebaut ist, sondern stellt auch den sprichwörtlichen Sauerstoff für den Organismus unseres heiligen Glaubens dar. Denn ohne das Prinzip der Vergebung würde sowohl das Christentum als Religion inhaltlich gewaltig und unerkennbar verzerrt werden als auch wäre dann ein jegliches christliches Leben letztendlich zum Absterben verurteilt. Das Christentum ohne den inneren “Mechanismus” der Vergebung wäre wie ein Auto ohne Motor oder Luft ohne Sauerstoff!
So besteht ja die Hauptbotschaft der christlichen Offenbarungsreligion in der Erkenntnis, dass Gott die Liebe schlechthin ist und sich unser, der Menschen, in Gnaden erbarmt hat: “Gott ist ja die Liebe. Gottes Liebe hat sich an uns darin geoffenbart, dass Gott Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch Ihn das Leben haben. Darin zeigt sich die Liebe: Nicht wir haben Gott geliebt, sondern Er hat uns geliebt und Seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt.” (1 Joh 4,8-10)
Dabei bestand dieses “Sühnopfer” nicht allein in der Tatsache des Leidens und Sterbens Jesu. Das besondere und einmalige am Leiden und Sterben Jesu bestand ja gerade darin, dass Er unsere Sünden, durch die wir uns alle von Gott getrennt und (in Adam und Eva) als Menschheit selbst aus dem Paradies vertrieben haben, freiwillig und ungezwungen auf sich genommen und sich dann mit dieser gesamten menschlichen Schuld identifiziert hat! Auf diese Weise zog Er bewusst den gesamten Fluch der Sünde und menschlichen Schuld auf sich und durchlitt ihn stellvertretend für uns, die Menschen.
Er tat dies aus Seiner unendlichen und unbegreiflichen göttlichen Liebe zu uns und schuf auf diese Weise die Erlösung für uns - die Möglichkeit, durch Umkehr von der Sünde und dem falschen Weg uns Jesus Christus, dem göttlichen Erlöser, zuzuwenden, zu Ihm zu bekennen und von Ihm somit die reichen Gnaden der Vergebung Gottes, der gnadenhaften Versöhnung mit Ihm und des neuen und ewigen Lebens zu erlangen!
Für die Zeitgenossen Jesu war die Vorstellung von einem leidenden Messias schlicht und ergreifend unvorstellbar! Dieser Gedanke passte überhaupt nicht in ihr Welt- und Gottesbild. Deswegen nahmen ja auch sogar die Aposteln großen Anstoß an Jesus, als sie nämlich merkten, Jesus lasse es schlussendlich geschehen (ohne sozusagen mit der mächtigen Faust drauzuschlagen), als Gotteslästerer angeklagt und als größter Verbrecher zu Tode verurteilt zu werden. Dass der wahre Sohn Gottes, der vom Vater im Himmel geschickt werde, so etwas erleiden könnte und dann auch noch den äußerst schmerz- wie schmachvollen Kreuzestod durchleiden würde, widersprach gänzlich ihrer damaligen Gottesvorstellung.
Aber gerade darin bestand und besteht ja auch das göttliche Mysterium der Erlösung! So heißt es bei Apostel Paulus in Bezug auf Jesus: “In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit wesenhaft. In Ihm seid ihr dieser Fülle teilhaftig geworden. ... Er hat uns alle Fehltritte vergeben, hat die Schuldschrift, die uns mit ihrer Anklage belastete, ausgelöscht und vernichtet, da Er sie ans Kreuz heftete. Er hat die Mächte und Gewalten entwaffnet, offen an den Pranger gestellt und durch Ihn über sie triumphiert.” (Kol 2,9.10.14.15.) Diese “Entmachtung” der Gott widerstreitenden Unterwelt bzw. Sein “Triumph” darüber besteht ja gerade darin, dass Jesus als das gänzlich unschuldige Lamm Gottes durch Sein aus reiner Liebe zu uns angenommene und bejahte stellvertretende Leiden und Sterben, Sein Liebesopfer, die aus Gründen der Gerechtigkeit notwendig gewordene Sühne für unsere menschliche Schuld vor Gott vollzogen und uns somit im Prinzip auch wieder die Pforten des Paradieses geöffnet hat!
So ist das Heil-Wirken für die Menschen und die Ermöglichung ihrer Teilhabe am übernatürlichen Leben mit Gott das eigentliche primäre Anliegen Gottes. Zu diesem Zweck ist Er ja eben sogar in den Tod gegangen! Bevor Er den unbußfertigen und umkehrunwilligen Menschen dann auch bestraft, bemüht Er sich zuerst eben um dessen Umkehr. Wie heißt es denn ja schon beim Propheten Ezechiel so zutreffend: “‘Sage ihnen’, - Spruch des allmächtigen Herr - ‘ich habe kein Wohlgefallen am Tod des Gottlosen, sondern daran, dass sich der Gottlose von seinem Wege bekehre und lebe. Bekehrt euch, bekehrt euch von euren bösen Wegen!’” (Ez 33,11)
Und dass gerade die Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes zum integralen Bestandteil des christlichen Gottesbegriffes gehört, beweisen vor allem die Worte und Taten Jesu so eindrucksvoll, wie sie uns so zahlreich im Evangelium überliefert wurden. So heilte Jesus wie selbstverständlich und ohne viel Aufhebens einen Aussätzigen (Mt 8,1-3), den Knecht des Hauptmanns von Kapharnaum (Mt 8,5-13) und die Schwiegermutter von Petrus (Mt 8,14f.) Dann heißt es auch noch: “Am Abend brachte man viele Besessene zu ihm. Er trieb die Geister durch Sein Wort aus und heilte alle Kranken. So sollte sich das Wort des Propheten Isaias erfüllen, der da sagt: ‘Er nimmt unsere Gebrechen auf sich und trägt unsere Krankheiten’.” (Mt 8,16f.)
Wir lesen auch, wie Jesus “die bösen Geister” aus “zwei Besessenen” austrieb (Mt 8,28-32) und einem Gelähmten nicht nur die Sünden vergab, sondern ihn im Anschluss daran auch noch von seinem Leiden heilte (Mt 9,2-8). Ferner erfahren wir, wie Jesus die Tochter eines Synagogenvorstehers trotz der Tatsache, dass Er von den Umstehenden verlacht wurde, liebevoll von den Toten auferweckte und auch eine Frau von ihrem “Blutfluss” befreite (Mt 9,18-26). Ebenso steht da, dass Jesus zwei Blinde heilte, die Ihn anflehten, sich doch ihrer zu erbarmen (Mt 9,27-30), und auch einem “Stummen, der vom Teufel besessen war”, entsprechend helfend beistand (Mt 9,32f.).
Und das sind nur zwei Kapitel des Matthäus-Evangeliums, die wir hier entsprechend herangezogen haben. Von wie vielen Heilungen, Wundertaten und Todeserweckungen Jesu können wir sonst noch in den Evangelien erfahren, die alle nur von Seinem abgrundtiefen Mitleid mit den betreffenden leidenden Menschen bzw. von Seinem unendlichen göttlichen Erbarmen mit uns allen her richtig verstanden werden können! Stellt Er ja auch selbst in der Diskussion mit den Pharisäern fest, die Ihm Seinen freundlichen bis liebevollen Umgang mit Zöllnern und Sündern zum Vorwurf machten: “Jesus hörte es und sagte: ‘Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht hin und lernt, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Denn Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder.’” (Mt 9,10-13)
Also kommt in diesen Worten das Haupt- bzw. Primärziel des Wirkens Jesu zum Vorschein - Er hatte sowohl mit den physischen wie psychischen Leiden der Menschen abgrundtiefes Mitleid als auch will Er uns vor allem einen wirksamen Anteil an der Vergebung unserer moralisch-sittlichen Schuld schenken! So kann das Grundprinzip des christlichen Gottesverständnisses auch folgendermaßen sehr zutreffend formuliert werden: “Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen Eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat Seinen Sohn (primär! - Anm.) nicht dazu in die Welt gesandt, dass Er die Welt richte, sondern damit die Welt durch Ihn gerettet werde.” (Joh 3,16f.) So ist ja bezeichnenderweise gerade das Kreuz, auf welchem Christus zu unserer Erlösung gelitten hat, das eigentliche Symbol des Christentums, durch welches es unmissverständlich erkannt und identifiziert werden kann!
■ Nun erschöpft sich für uns die christliche Heilsbotschaft von einem sich erbarmenden Gott nicht allein in entsprechenden Hinweisen auf die selbstlose und liebende Haltung Jesu Christi und Sein Erlösungswerk. Denn daraus entwächst auch für uns eine entsprechende sittliche Forderung, die wir uns ja zu Ihm bekennen. Der hl. Apostel Paulus formuliert dieses grundsätzliche Gebot folgendermaßen in seinem Brief an die Epheser: “Brüder! Nehmt Gott zum Vorbild als Seine geliebten Kinder. Wandelt in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt und sich für uns als Opfergabe hingegeben hat, Gott zum lieblichen Wohlgeruch” (Eph 5,1f.).
In der Bergpredigt, die als das kleine Evangelium gilt, preist Jesus gleich zu Beginn u.a. auch und gerade die “Barmherzigen” “selig”, denn “sie werden Barmherzigkeit erlangen” (Mt 5,7). Somit gibt Er schon da ganz klar den Ton und die Richtung seiner Sittlichkeitslehre an. Er erwartet von Seinen Jüngern unmissverständlich eine “Gerechtigkeit”, die bezeichnenderweise “weit vollkommener ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer”, denn sonst “werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen” (Mt 5,20). Also geht Er da viel weiter als die entsprechenden sittlichen Forderungen des Alten Testamentes.
So legt dann Jesus das Fünfte Gebot Gottes gleich so aus, dass da nicht erst die tatsächliche Tötung eines Menschen eine Sünde gegen dieses Gebot ist, sondern bereits ein (hasserfülltes) Zürnen gegen “seinen Bruder”. Dabei soll die Versöhnung zwischen uns, Menschen, möglichst schon vor der Opferdarbringung im Tempel erfolgen (vgl. Mt 5,21-26.) Als so dringend wird sie also von Jesus angesehen!
Er bricht dann auch mit dem unvollkommenen alttestamentarischen Gebot “Auge um Auge, Zahn um Zahn” fundamental, indem Er fordert, notfalls auch die andere Wange hinzuhalten, wenn man auf die eine geschlagen werde (vgl. Mt 5,38-42). Also soll es einem Christen keinesfalls um Rache und das Heimzahlen des von anderen erlittenen Unrechts gehen, sondern letztendlich doch auch um Vergebung! (Wie viel Ignoranz über die Lehre Jesu besitzen also jene “Experten”, die z.B. bei Talkshows und in Gesprächsrunden zum Thema Islam immer noch behaupten, das Christentum verträte ja ebenfalls den Grundsatz “Auge um Auge, Zahn um Zahn”, obwohl Jesus dieses alttestamentarische Prinzip ja ausdrücklich kritisiert und verworfen hat! Das kann man sehr wohl dem Judentum und Islam vorwerfen, keinesfalls aber dem Christentum.)
Wie wunderbar sagt Jesus dann auch: “Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden. Dann werdet ihr Kinder eures Vaters im Himmel. ... Denn wenn ihr nur jene liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben? Tun das gleiche nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Freunde grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das gleiche nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!” (Mt 5,43-48.)
Innerhalb der Bergpredigt wendet sich Jesus dann auch noch gegen die schlimme Unart, andere zu verurteilen: “Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn das Urteil, das ihr fällt, wird über euch gefällt, und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch gemessen werden.” Ferner soll man zuerst nicht auf den “Splitter” im Auge seines Mitmenschen schauen, sondern eventuell sogar auf den “Balken” im eigenen Auge. Denn sonst wären wir eben “Heuchler”! (Vgl. Mt 7,1-5.)
Selbstverständlich können wir nicht umhin, alles, womit wir auf die eine oder andere Weise konfrontiert werden, sittlich zu bewerten, eben zu be-urteilen, ob es nämlich dem Gebot Gottes entspricht oder nicht. Das tun wir immer, wenn auch nur unbewusst - das entspricht unserem gesunden und uns von Gott eingegebenen sittlichen Empfinden! Wogegen sich aber Jesus im obigen Wort wendet, ist die schlimme Unsitte, die anderen insofern zu “ver-urteilen”, zumal vorschnell, dass man sozusagen ein endgültiges Urteil über sie fällt und dabei nicht den geringsten Zweifel am eigenen Vermögen hegt, das gesamte den betreffenden Fall angehende Wissen zu besitzen bzw. richtig zu beurteilen!
■ Somit sehen wir, dass auch wir von einer grundsätzlichen versöhnlichen Haltung anderen Menschen gegenüber beseelt sein bzw. vordergründig die Mentalität der Vergebungsbereitschaft haben sollen. Hat jemand wie auch immer uns gegenüber Unrecht getan, sollten wir als Jünger Jesu ebenfalls wie selbstverständlich bereit sein, ihm zu verzeihen und zu vergeben, und zwar genauso von Herzen und nicht nachtragend, wie dies auch Jesus getan hat, als Er während Seiner furchtbaren Kreuzigungsleiden noch für Seine Peiniger “betete: ‘Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!’” (Lk 23,34) und dem reuigen Schächer verzieh und versprach, er werde “heute noch” mit Ihm “im Paradies sein” (Lk 23,40-43)! Welch eine gewaltige positive zivilisatorische Kraft für die ganze zukünftige Menschheitsgeschichte lag und liegt in dieser Vergebung durch Gott!
Jesus stellt auch einen klaren Zusammenhang zwischen unserer Vergebungsbereitschaft anderen gegenüber und der von uns für uns selbst erwarteten und erhofften Vergebung durch Gott her: “Wenn ihr nämlich den Menschen die Fehler vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben” (Mt 6,14f.). Bezeichnenderweise lässt Er uns auch im Vaterunser ausdrücklich beten: “Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern” (Mt 6,12). Denn wie soll jemand die Verzeihung von Gott erlangen können, wenn er selbst hartherzig und verbittert ist? Erst der Großmut eines Menschen, über seinen eigenen (egoistischen) Schatten zu springen und anderen die echte Vergebung zu schenken, befreit uns von allen Fesseln des Eigennutzes und lässt uns geistig frei aufatmen!
Selbstverständlich gib es eine klare und unmissverständliche Bedingung, damit die von der einen Seite gewünschte und von der anderen Seite erhoffte Vergebung tatsächlich realisiert und somit wirksam werden kann: die aufrichtige Reue über die eigene Schuld und der ehrliche Vorsatz seitens des Sünders, sich zu bessern! Solange nämlich dies nicht stattfindet, können weder wir die Vergebung von Gott erlangen noch andere ernsthaft mit unserer Verzeihung rechnen. Denn man bereut in einem solchen Fall seine Fehltritte ja nicht wirklich (sondern zieht eventuell nur eine billige Show ab, um andere aus welchem Grund auch immer hinters Licht zu führen).
Aber auch in einem solchen Fall, dass nämlich die, die uns gegenüber ein Unrecht begangen haben (oder dass wir nämlich denken, sie hätten es getan), ihre Schuld entweder nicht einsehen oder aus falschem Stolz nicht zugeben wollen, sollten wir keinesfalls etwaige eine bestimmte gesunde Grenze überschreitende, lieblose Gedanken zulassen geschweige denn gehässige Reaktionen starten. Bitten wir statt dessen den Heiligen Geist um die Gnade, den anderen insofern in der Hoffnung verzeihen zu können, dass wir die ehrliche Absicht erwecken zu verzeihen, sobald die andere, schuldige Seite nämlich nur erste Zeichen der echten Einsicht bezüglich der eigenen Fehler gibt und uns dann auch tatsächlich um Verzeihung bittet.
Der Vater im Gleichnis vom Verlorenen Sohn sass nicht etwa stur zu Hause und verlangte übertrieben “paragraphenreitend”, der irregegangene Sohn müsse zuerst unbedingt auch die Schwelle seines Hauses übertreten haben, bevor er selbst überhaupt beginne, sich mit dessen Umkehr-Anliegen zu beschäftigen. Nein, “schon von weitem sah ihn sein Vater und ward von Erbarmen gerührt. Er eilte hin, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.” (Lk 15,20.) Das heißt, dieser Vater hat die Heimkehr dieses Sohnes sehr wohl vital ersehnt und bereits aktiv nach ihm Ausschau gehalten!
Somit lehrt Jesus auch uns, sowohl ein aufrichtiges Interesse an der Besinnung und Umkehr “unserer Schuldiger” zu haben als auch diese zum Zweck des Weckens ihrer Umkehrabsicht bzw. auch während des praktischen Prozesses ihrer “Rückkehr” im Maße der eigenen Möglichkeiten mit Rat und Tat zu unterstützen!
Und wenn wir dann für die sich auch gegen uns versündigten Irregegangenen auch insofern aufrichtig beten, dass wir ihnen da bereits in der Hoffnung verzeihen, erweisen wir uns als treue Jünger Jesu Christi, die ebenfalls eher Interesse an der Zuwendung der Menschen zu Gott und der Lehre Jesu haben, als sich um ihre privaten und allzu menschlich-irdischen Befindlichkeiten kümmern. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: “Vergebung verändert nicht die Vergangenheit, aber sie bereichert unsere Zukunft!”
Welch eine heilende Kraft die Vergebung beinhaltet und zivilisatorische Leistung sie erbringt, zeigt uns auch das folgende Beispiel. Wie wir uns ja erinnern, sind in den letzten Jahren verstärkt zahlreiche koptische Kirchen in Ägypten zerstört und auch nicht gar so wenige koptische Christen vom tobenden muslimischen Mob aus Christenhass umgebracht worden. Drastisch zugenommen haben die betreffenden traurigen Zahlen besonders während der Ergreifung der politischen Macht im Land durch die Partei der so genannten Muslimbrüder und kürzlich auch durch die blutigen Exekutionen der Kopten durch die sich in Lybien eingenisteten IS-Verbrecher.
Die Kopten sind daraufhin auch auf die Straßen gegangen und haben lautstark gegen das furchtbare ihnen zugefügte Unrecht und die Morde protestiert. Aber die Menschen wurden von ihren Priestern und Bischöfen eindringlich aufgerufen, von jeglichen etwaigen Racheakten unbedingt Abstand zu nehmen. Und wie ich kürzlich in einem Bericht bzw. in einem Video-Interview mit einem koptischen Bischof vernehmen konnte, hat sich eine ganze Reihe von Moslems in Ägypten tief beeindruckt gezeigt von diesem nicht auf Rache und Gewalt ausgerichteten Verhalten der Christen!
Für viele Moslems und auch sich ausschließlich auf das Alte Testament berufende Juden (etwa die so genannten orthodoxen Juden) ist Rache und Feindeshass sehr wohl Ausdruck eines angeblich “Gott”- oder “Allah”-konformen Denkens und Handelns. Anders sehen und definieren sie nicht die Welt, die Geschichte und das gesellschaftliche Zusammenleben. Und wenn sie dann aber in Berührung kommen mit einem Verhalten von Christen, die diese furchtbare Hass- und Gewaltspirale durchbricht, werden die vernünftigeren (und noch nicht gänzlich geschädigten) Köpfe unter ihnen vielleicht doch auch etwas nachdenklich bzw. fangen an, die auf der jeweiligen eigener Kultur und Religion aufgebauten Sprüche und Parolen abzulegen und sich Gedanken über die betreffende Lehre Jesu und des Christentums zu machen.
Und tatsächlich berichtete dann der betreffende interviewte koptische Geistliche, dass es in Ägypten in manchen Gegenden sogar zu zahlreichen Fällen von Konversion von Moslems zum Christentum gekommen ist und auch weiterhin kommt! Weil die Menschen eben nicht mehr weiter diese ganze furchtbare psychische Last aushalten können, die durch die in ihrer islamischen Gesellschaft gelehrten und praktizierten Fokussierung auf Hass und Rachsucht verursacht wird. Das ist nämlich die heilende und segnende Wirkung der christlichen Lehre und Religion, die eben auf Verzeihung und Vergebung dem reuigen Sünder gegenüber bzw. auf der Gesinnung der Hoffnung auf seine Umkehr aufgebaut ist, wie sie Jesus Christus, unser göttliche Erlöser, sowohl selbst eindrucksvoll vorgelebt als auch uns zum Gebot gemacht hat!
■ In diesem Zusammenhang sei auch noch auf einen anderen wichtigen Punkt hingewiesen. Heute hört man immer wieder ein bestimmtes Argument von Menschen, die die katholische Kirche z.B. wegen ihrer klaren ablehnenden Haltung gegen die heute sehr verbreiteten und in der Gesellschaft wie selbstverständlich akzeptierten Phänomene wie vor- und außerehelicher Sex, Ehescheidung, Ehebruch, Abtreibung oder Homo-Beziehungen kritisieren. Man sagt da, die Kirche sei halt hartherzig und würde kein Verständnis aufbringen und keine Nachsicht üben mit den betreffenden Menschen. Als Christen müsse man ja verzeihen können, Vergebung sei ja ein eherner Grundsatz des Evangeliums. Diese Polemik geht bisweilen sogar so weit, dass einem Menschen, der an den moralischen Grundsätzen der katholischen Kirche festhält und die angesprochenen schwer sündhaften Erscheinungsweisen nicht gutheißt, dann absurderweise ein Bruch mit der Lehre Jesu vorgeworfen wird, weil man eben angeblich “kein Mitleid” mit den Menschen habe und nur “unbarmherzig” irgendeinen Lehrsatz vertrete.
Nun, jeder Akt der Vergebung, soll er wirksam werden, setzt auf Seiten des Delinquenten echte Einsicht der eigenen Schuld und aufrichtige Reue wegen des begangenen Fehlers voraus. So verhielt sich übrigens gerade Jesus Christus, der Stifter der christlichen Religion! Als eine Sünderin im Johannesevangelium, die beim Ehebruch erwischt worden ist, von den Juden gesteinigt werden sollte, rettete sie Jesus von der ihr bevorstehenden Todesstrafe, verzieh ihr und entließ sie schlussendlich mit den Worten: “Geh hin und sündige fortan nicht mehr” (Joh 8,3-11). Also ist der Vorsatz, “fortan nicht mehr” zu sündigen, ein integraler Bestandteil des Vergebungsprozesses!
Im Lukasevangelium wird von einer “stadtbekannten Sünderin” berichtet, die zu Jesus kam, der “im Haus eines Pharisäers zu Tisch” lag: “Sie ließ sich weinend hinter Ihm zu Seinen Füßen nieder und fing an, Seine Füße mit ihren Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen. Dann küsste sie Seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.” Auf den gedanklichen Einwand des Gastgebers, sie sei ja “eine Sünderin”, verwies Jesus darauf, wie hingebungsvoll sie tat, was sie tat, und schloss mit der Feststellung: “‘Ihre viele Sünden sind vergeben; denn sie hat viel Liebe gezeigt. Wem aber weniger vergeben wird, der hat weniger Liebe.’ Dann sagte Er zu ihr: ‘Deine Sünden sind dir vergeben.’” (Lk 7,36-50.)
In der Logik der Erläuterungen Jesu können wir schlussfolgern, dass einem Sünder wohl dann überhaupt keine Sünden vergeben werden, wenn er auch überhaupt keine Liebe hat! Dass diese “Liebe” der Ehebrecherin hier im Sinne von Liebesreue gemeint ist, wird aus dem gesamten Kontext ersichtlich. Also gehört auch die aufrichtige Reue des Sünders zum integralen Bestandteil des Vergebungsprozesses bzw. stellt sogar die absolute Bedingung zur Erlangung der Vergebung der eigenen Schuld dar!
Jene liberal gesinnten Kritiker der Kirche begehen auch den fundamentalen Fehler (ob bewusst oder unbewusst, sei hier dahingestellt), dass sie in moralischer Hinsicht “gut” nicht mehr als “gut” und “schlecht” nicht mehr als “schlecht” bezeichnen. Sie verwischen die sittlichen Grenzen und Kategorien und betreiben den höchst gefährlichen Prozess der Rechtfertigung eines moralischen Unrechts. Der erste Schritt ist da - so ist oft zu beobachten - die Verharmlosung der Sünde, der zweite Schritt die Füllung einer an sich sündhaften Tat und Gesinnung mit positiven moralischen Inhalten (die Umfunktionierung von Böse zu “Gut”) und der dritte Schritt zuerst gemäßigte und dann sogar aggressive Kritik an den Kritikern dieser brandgefährlichen Entwicklung bzw. dieser Pervertierung sittlicher Werte! Und zwar alles nach eigenem Gutdünken!
Kommt dann bald auch noch der vierte Schritt: die systematische Verfolgung derer, die da nicht mitmachen und zu authentischen christlichen Wertinhalten stehen? Dafür dass diese Stufe teilweise schon begonnen hat, gibt es bereits nicht wenige Anzeichen. Inzwischen sind ja in Deutschland z.B. schon einige politische Ämter unterer Ebene nicht mehr für Menschen zugänglich, die sich z.B. gegen die Abtreibung aussprechen. Und dass im vermeintlich katholischen Bayern, wie kürzlich ein konkreter Fall in München gezeigt hat! Obwohl die Abtreibung laut dem höchsten deutschen Gericht offiziell immer noch als ein Unrecht gilt, werden die, die sich auch zu dieser höchstinstanzlichen Gerichtentscheidung bekennen, kriminalisiert und aus der Mitte der “Guten” ausgestoßen. Und keiner tut etwas dagegen, sondern nimmt es meistens schweigend hin, sprich heißt es gut! Was hat das bitte noch mit einem Rechtsstaat zu tun? Der deutsche Staat führt sich also selbst ad absurdum.
Und was ist, wenn jenen liberalen einflussreichen Kreisen nach eigenem Gutdünken in den Sinn kommen sollte, flächendeckend etwa Mord und Totschlag zu legitimieren? Dass wir uns aber bereits auch in einem solchen Prozess befinden, sieht man schon allein an der Tatsache, dass in manchen europäischen Ländern etwa Euthanasie legitimiert worden ist und, wenn auch teilweise noch umstritten, zur Praxis gehört.
Von der Abtreibung ganz zu schweigen! Denn wer sich gegen die Abtreibung einsetzt, die ja nichts anderes ist als Tötung unschuldigen menschlichen Lebens, gilt ja heute schon als ein Art von “Unmensch”, der vom politischen und medialen Establishment in der Luft zerrissen wird. Hier erinnert man sich dann an die eindringlichen Warnung des hl. Apostels Paulus bezüglich des “Gesetzes der Gottlosigkeit” und der “satanischen Macht”, die darin ihren Höhepunkt finden, dass “der Mensch der Gesetzlosigkeit ... sich über Gott und alles Heilige erhebt. Er setzt sich sogar in den Tempel Gottes und gibt sich für Gott aus.” (2 Thess 2,1-12)
Nein, die Sünde kann grundsätzlich nur vergeben werden, wenn sie vorher klar und unmissverständlich als Sünde bezeichnet worden ist. In den oben zitierten Evangeliumsabschnitten zweifelt ja auch Jesus in keinster Weise an, dass nämlich Ehebruch eine Sünde ist, von der man Ihm zufolge unbedingt Abstand nehmen muss (“Geh hin und sündige fortan nicht mehr”). Sein gesamtes Evangelium betont, dass die auf die Einhaltung Seiner Gebote ausgerichtete Liebe gut und gottwohlgefällig ist und die Verletzung des sittlichen Gebotes Gottes Sünde ist, die eben nur vergeben werden kann, wenn sie auch aufrichtig bereut wird!

P. Eugen Rissling



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